KritInterview: Chance zur CyberCommunity (1997)

Der KritApfel wurde insgesmt 50 mal von Ralph Segert ausgeben. Der zehnte ging an mich… 14 Jahre danach sind die Themen mit denen wir uns damals beschaeftigt haben immer noch relevant und leider auch immer noch akkut. In den USA is wiedermal der Kampf um die Netzneutralität aktuell, als Congress der FCC verbietet sich fuer Netzneutralität einzusetzen.  AT &T und Comcast versuchen den meist bietenden Vorfahrt zu gewaehren oder der Konkurrenz den Zugang zu verwehren oder zu erschweren.

Hier aber nun der Ausflug in meine persönliche Netzgeschichte.

10/50 Chancen zur CyberCommunity 6/97
Birgit Pauli-Haack mischt kräftig mit im Web. Sie ist eine der Initiatoren des Shoah-Projekts, hilft beim Aufbau eines “Bürgernetzes” München und arbeitet im Forum Webkultur mit.

Chancen zur CyberCommunity

Birgit Pauli-Haack mischt kräftig mit im Web. Warum und Wie, das erzählt sie hier im Interview für den KriT-Apfel

KriT: Wir haben uns vor Wochen in der Mailinglist Webkultur kennengelernt. Mir ist aufgefallen, daß Du Dich im Web sehr engagierst. Du bist z.B. am Aufbau eines “Bürgernetzes München” beteiligt. Um was geht es hier?

Birgit: Das Bürgernetz München ist hervorgegangen aus der Initiative “Bayern Online” der Bayerischen Staatsregierung. Bayern soll hinsichtlich Datenautobahn fitgemacht werden für das nächste Jahrtausend. Jede bayerische Bürgerin und jeder bayerische Bürger soll kostenlos einen Internetzugang erhalten.

Das klappt wohl auch. Außer einer einmaligen Verwaltungsgebühr von 30 Mark ist für den User der Zugang zum Internet kostenlos. Diese Initiative gibt es nicht nur in München. Auch in anderen größeren Städten Bayerns finden sich Menschen, die sich dafür engagieren. Es ist natürlich nur fast wie ein professioneller Zugang, aber das ist, glaube ich, abends ab 21.00 Uhr sowieso egal, dann ist fast jeder Zugang nicht mehr der schnellste.

Das Bürgernetz München hat ca. 3000 User und davon sind ca. 900 Fördermitglieder, die einen eigenen Homepageplatz auf dem Bürgernetz-Server haben und eine “ordentliche” Email-Adresse. Der Betreiber ist das Frauenhofer Institut München, wo der Server steht und gepflegt wird.

Mein Engagement im Bürgernetz ist fast völlig “virtuell”. Ich pflege die “Bürgernetz-Homepages”, eine Übersicht der bestehenden WWW-Seiten mit einer Themenliste. Darin sind zur Zeit 75 Einträge – eine noch ziemlich geringe Zahl angesichts der 900 möglichen. Um die Mitglieder anzuspornen, eigene WWW-Seiten zu machen, habe ich den Home Page Workshop erstellt, der Tips & Tricks und ein Graphik-Archiv bietet. Der Sinn meiner Aktivitäten ist, mit den Mitgliedern im Bürgernetz München eine CyberCommunity zu schaffen. Wir sind auf dem Wege!

KriT: Wenn ich an das reale Leben denke, dann fällt mir nicht gerade zuerst Gemeinschaft ein, eher das Gegenteil. Warum sollte so etwas im Web denn besser gelingen? Ist “CyberCommunity” nicht eher ein frommer Wunsch als eine “reale” Möglichkeit des solidarischen Miteinanders?

Birgit: CyberCommunity ist selbstverständlich ein Schlagwort, das jede Gruppe, jeder Mensch für sich selbst definieren muß. Ich definiere CyberCommunity aus meiner Online-Erfahrung heraus so, daß sich zu wechselnden Themen unterschiedliche Menschen zusammenfinden, wie z.b. in den Foren von CompuServe. Es bilden sich über den rein sachlichen – meist technischen Inhalten – private und persönliche Beziehnung. Man begegnet online wie auch im realen Leben Menschen, denen man etwas zu sagen hat und solchen, wo die Kommunikation über den sachlichen Inhalt nicht hinaus geht. Die Chance für beides ist halt sehr groß ;-)) Diese Bildung einer solchen Gemeinschaft dauert wohl etwas länger als ich nach ungefähr fünf Monaten sagen kann, aber es funktioniert.

Ein weiteres Schlagwort ist Interaktivität, das in den gleichen Zusammenhang genannt werden muß. Wie bringe ich den Konsumenten dazu, sich zu beteiligen? Daß viele Mails unbeantwortet bleiben, sollte dabei nicht frustrieren, es kommen auch sehr positive, anspornende Mails. Ich betrachte es als Experiment, das noch lange nicht zu Ende ist. Du magst mich für naiv halten, in meinem “privaten Streben” eine Community zu schaffen, aber ich will nun einmal erfahren, was bei Leuten ankommt und was nicht. Da ich nur glaube, was ich sehe, probiere ich einiges aus. Ich weiß, daß meine Seiten gelesen werden, explizites feedback ist eher selten… Daraus schließe ich noch nicht, einer stummen imaginären Masse gegenüber zu stehen, sondern erst einmal nur, daß es noch nicht der richtige Dreh war, Leute anzusprechen.

Solidarität ist allerdings etwas, was ich, wie Du, kaum im realen Leben finde. Es ist tatsächlich eine Utopie, in Zeiten, in denen der Wohlstand herrscht; selbst, wenn dieser schwindet. Die Selbstlüge vom “mir kann das alles nicht passieren” und “Das Glück ist mit den Tüchtigen und wir sind tüchtig” hält uns davon ab, uns solidarisch zu erklären, weil viele nicht wissen “Womit?”.

Die persönliche Betroffenheit, und das ist fast natürlich, fängt erst an, wenn etwas am eigenen Leib erfahren wird. Zyniker halten das für “Mangel an Phantasie” und da bin ich zynisch.

Shoah ProjectKriT: Auf Deiner Homepage problematisierst Du Zensur im Netz und seit kurzem machst Du mit Ralf P. Graf das “Shoah-Projekt” gegen Fremdenhass und Nazi-Ideologie. Was motiviert Dich zu politischem Engagement im Web?

Birgit: Die Auseinandesetzung mit dem Holocaust hat begonnen, als ich noch auf der Schule war; die Nation war erschüttert von dem vierteiligen amerikanischen Film “Holocaust” und ich auch. Ich begriff erst durch die Schicksale der Filmfamilien, was die Naziherrschaft im täglichen Leben einer jüdischen Familie bedeutet hat. Wie die Nation schon Jahrzehnte, fragte sich auch Klein-Birgit: “Wie war das möglich!” Für mich stellte sich auch noch eine andere Frage: “Wieso haben sich die Juden nicht gewehrt?”

Seitdem habe ich ziemlich viel gelesen: Fast alles von Lion Feuchtwanger, Leon Uris, Sebastian Haffner, Albert Speer, natürlich auch Daten, Fakten, Hintergründe… Im Moment lese ich von Victor Klemperer: “LTI” (Lingua Tertii Imperii) – Notizbuch eines Philologen, über die Sprache des Dritten Reiches.

Nun bin ich erzogen im Respekt für Andersdenkende, geübt in der (manchmal wirklich schwierigen) Toleranz der Meinung anderer, ausgestattet mit einem ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Das nun ausgerechnet das absolut freie und chaotische Internet staatlichen Stellen zur Begierde ihrer Zensurmacht wird, halte ich nicht für richtig.

So gern ich die menschenverachtenden Neonazis mit ihren Hetzparolen daraus verbannt sähe, und so sehr ich es begrüße, daß Nazipropaganda in Deutschland verboten ist, halte ich Zensurbestrebungen im Internet für einen Rückschritt im demokratischen Prozeß.

Und zwar aus einem Grund: Wenn andere Nationen die deutsche Argumentation zur Zensur von Nazis auf ihre spezifischen Belange übertragen – China gegen Dissidenten, Iran gegen westlichen Lebensstil, selbst die USA mit ihrem Indecent Act – dann wird im Internet bald nichts mehr zu sehen sein, außer verschleierten Frauen, Hygienevorschriften für die Bürgersteige in Singapur und Autowerbung von VW. Wer legt denn die Maßstäbe fest? Wie wollen wir z.B. China klar machen, daß Meinungsfreiheit im Internet ein höheres Gut ist als die Machterhaltung der kommunistischen Partei, wenn wir nicht sorgfältig mit unserer eigenen Meinungsfreiheit umgehen und Zensur von Internet-Inhalten im eigenen Land zulassen?

Wenn ich also Nazis vor diesem Hintergrund nicht aus dem Netz verbannen kann, muß ich etwas dagegensetzen. Im Land der Täter gibt er sehr wenig zu diesem Thema. Ralf P. Graf hat auf seiner Homepage ähnliche Inhalte und wir haben uns regelmäßig ausgetauscht. Daraus ist nun das gemeinsame Shoah-Projekt geworden. Für uns hat es wenig Sinn den zahlreichen Link-Listen zwei weitere hinzuzufügen. Also pflegen wir nur eine und wollen mit dem Rest der Site Inhalte bieten: Hintergrund-Informationen zu bestehenden Projekten (z.B. nizkor.org), Geschichten von Überlebenden, Dialog mit Holocaust-Forschern in den USA, dem “MedienSurf” mit der Information aus der Presse und vom Buchmarkt. Außerdem möchten wir die wenigen deutschen Seiten anderer Anbieter in die Site integrieren. Denn es gibt wirklich gute Sachen, die ziemlich schwer im riesigen Internet aufzufinden sind.

KriT: Das hört sich nach einem beträchtlichen Zeitaufwand an! Wie schaffst Du das und wie paßt sich das in Dein “real life” ein?

Birgit: Zeit ist ein absolut relativer Begriff. Für etwas, was man gerne macht, ist immer Zeit! Um es etwas zu konkretisieren: Ich habe an einem Arbeitstag zwischen einer und vier Stunden Energie und Konzentration für meine Email und der Renovierung meiner Homepage bzw. zur Umsetzung neuer Ideen. An meinen freien Tagen verbringe ich fast meine gesamte Zeit vor dem Computer. Für viele kann das ein Horror sein, und das kann ich verstehen. Für mich bedeutet es absolute Ablenkung und ist ungeheuer erholsam.

Privat bin ich mit einem Programmierer und furchtbar lieben Menschen verheiratet, werde dieses Jahr 34 Jahre alt und beruflich führe ich ein Restuarant der Systemgastronomie mit ca. 45 Mitarbeiter und durchschnittlich 500 bis 1000 Gästen täglich. Damit bin ich ziemlich vielen Leuten ausgeliefert, die mich beanspruchen und mich fordern. Das meiste ist nicht planbar und passiert von einer Sekunde auf die andere. Ich kann mich morgens in mein Restaurant stellen und warten, was passiert. Es ist unheimlich spannend und ich habe viel Energie. Das meiste, und das ist das Haupthandicap, passiert im akustischen Bereich: Telefon klingeln, Guten Tag sagen, Motzereien von schlechtgelaunten Mitarbeiter, die Unterhaltungen mit meinen Stammgästen und solchen, die es werden. Die Geräuschkulisse, wenn einige Hundert sich unterhalten, die Hintergrundmusik, das Knattern der Bondrucker, der Kassen usw. Meine Online-Existenz ist das reine Kontrast-Programm. Meine Ohren haben Pause. (Seiten im Internet mit Hintergrundmusik schaue ich mir nicht lange an ) Es ist das völlige “Für-Mich-Sein” und das relativ leichte Umsetzen von Kreativität, was mich an der Gestaltung von WWW-Seiten so fesselt. Ich beantworte Email, wann ich will oder eben gar nicht. Und, was sicher auch ein Aspekt ist, ich nehme keinerlei Verantwortung wahr, außer der, die ich mir selbst auferlege.

KriT: Befürchtungen und Wünsche? Oder: Wagst Du eine Prognose, wie sich das WWW in den nächsten Jahren entwickeln wird?

Birgit: Lieber Weihnachtsmann! Kurz vor Weihnachten wirst Du überschüttet mit Wünschen aus der ganzen Welt, es bleibt Dir meist nur eine kurze Zeit, diese zu erfüllen. Damit ich auch sicher gehe, daß meine Wünsche realisierbar sind, wende ich mich schon heute an Dich. Also bitte, bitte mach das Internet ganz schnell, damit ich die vielen guten Homepages alle anschauen kann! Oder überred’ die Telekom, daß sie die Gebühren für Ortsgespräche senkt auf 1 Pf pro Stunde.

Ok, ok! Also ernsthaft: Ich fürchte, wir werden auch im Internet von Werbebannern überhäuft werden. Die Perlen privater Homepages wird wachsen, ebenso wie die Hallo-Welt-Pages. Ich fürchte jedoch, daß Internet immer ein Privileg bleiben wird. Die CyberHype ist überzogen und nur Verrückte, wie ich, werden im Cyberspace eine Heimat finden. Email wird weiter die Welt zu einem Dorf machen, genauso wie Zeitschriften weiter am Kiosk gekauft werden. Online-Shopping wird den Versandhaus-Katalog nicht ablösen, nur ergänzen.

Internet wird die Welt nicht retten können, nur Taten im realen Leben werden unsere Welt weiterbringen. Und das :-)-Smiley wird ein reales freundliches Lachen nie ersetzen können.

KriT: Vielen Dank. Den KriT-Apfel schicke ich Dir die Tage frisch aus kritschen Landen zu. Du hast das letzte Wort.

Birgit: Lieber Ralph, vielen herzlichen Dank für den KriT-Apfel. Ich freue mich sehr darüber! Nun übernehme ich zum ersten Mal eine Verpflichtung im CyperSpace: nämlich des KriT-Apfels weiterhin wert zu sein. Man liest sich :-))))

Das Bürgernetz München hat am 31.12.2005 den Betrieb eingestellt (MucWeb)


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